Verspäteter Brief an J. Haufe
Lieber Jochen,
ich bin ein undankbarer Schüler.
Wie der verlorene Sohn habe ich deine Nähe nur dann gesucht, als ich von dir etwas wollte. Du hast mir immer nur gegeben. Im Tausch gegen deine großzügige Hilfe habe ich dir nur Kleinigkeiten überreichen können.
Weißt, ich wollte dich noch in den Sommerferien anrufen, dir einen langen Brief schreiben, aber der Trubel der Alltage, die Allernotwendigsten haben meine Freizeit geraubt.
Gute Ausreden, banale Zeilen…
Zu spät zur Entschuldigung.
Dein vernünftiger Blick durch die Brille, ein freundliches Lächeln, der gute Wille und die Überzeugungskraft, die wichtigen Ratschläge zum Versdrechseln – all dies bleibt in meine Seele eingraviert.
Wenn ich zur Feder greife, sitzt du auch jetzt neben mir und führst meine Hand mit sicheren Bewegungen. Was ich heute über Lyrik, Versbau, Verslehre und Verstechnik weiß, habe ich überwiegend dir zu verdanken. Deine Mahnungen klingen fortwährend noch in meinem Ohr.
Ja, als du zu uns nach Ungarn gekommen bist, hast du die Modernität und eine ganz neue Anschauungsweise mitgebracht. Vorher habe ich in Reimen, manchmal zu volkstümlich geschrieben, also einfach schlecht. Nach den ersten Werkstattgesprächen mit dir wurde mir alles so klar – wie der Morgenstern am Himmel. Das Blickfeld meines literarischen Raums hat sich ausgeweitet.
Die Früchte deiner langjährigen Tätigkeit kann man in den Ausgaben von VUdAK und auch meinen Büchern lesen. Deine literarische Gedankenwelt, die Methoden des Schreibens sind in all meinen Zeilen auffindbar.
Jetzt ist Spätabend und ich blättere in den alten Fotoalben. Unzählige Erinnerungen werden in mir wach. Überall schauen ungarndeutsche Autoren auf den Fotografen. Die meisten sind schon über den Fluss Styx und in den ewigen Jagdgründen. Ich und andere kämpfen noch als letzte Mohikaner ums Überleben.
Die Erinnerungen bestürmen mich. Wie könnte ich die gemeinsam verbrachten Werkstatttage vergessen? Die intensiven Gespräche, im Zimmer oder irgendwo im Hof oder im Freien? Ich kann mich noch gut erinnern, als wir – Robert Becker, Vata Vágyi und ich – über einen alten Platanenbaum ein Gedicht schreiben mussten. Diese Strategie des Schreibens hat uns damals auch viel geholfen. Du warst ein Maximalist im guten Sinne, ein Meister der Qualität.
Streichen, dichten, suchen nach anderen Worten – gehörten zu deinen Lieblingsausdrücken. Zum Gedanken, zur Aussage mussten wir Autoren das passende Wort finden. Jedes Wort wurde auf die Waage gelegt und gemessen. Dass wir ein Gedicht zwanzigmal umschreiben mussten, das war eine natürliche Sache. Nichts Überflüssiges durfte im Text bleiben. So kamen wir langsam auf den Pfad der Lyrik, so wurden aus den Laien Autoren.
Wir danken dir dafür!
Lieber Jochen, ich verabschiede mich nicht von dir, du lebst immer mit und in uns weiter.
Alles Gute dort drüben!
Schomberg, den 05. August 2014
Dein alter Freund:
Josef Michaelis
Nachschrift: Dieser Brief ist kein literarischer Text. Verzeihe mir bitte!
NZ 33-34/2014