Letzter Abschied
Warum erinnert man sich und was sind Erinnerungen? Mag sein, daß Erinnerung eine Methode zur Aufbewahrung des Wesentlichen ist, das wir erlebt haben. Eine Art Speicherung von Ereignissen und Emotionen, um diese später wieder erleben zu können. Die einem helfen, vom Vergangenen Abschied zu nehmen.
Im Roman „Letzter Abschied”* ruft Stefan Raile in vier Kapiteln gespeicherte Eindrücke in Erinnerung. Dabei vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart, längst verstorbene Menschen, Freunde, Verwandte, Bekannte, scheinen im Raum des gemeinsam Erlebten zu existieren, es wird versucht, Ereignisse zu bewältigen, die das Schicksal eines Dorfes fern, am Rande der Puszta, geprägt haben.
Jani kehrt nach vielen Jahren in das ungarndeutsche Dorf zurück, aus dem er als Kind vertrieben wurde, dessen Einwohner sowie Mundart er jedoch nie vergessen hat. Er glaubt, daß er bei seiner Reise ins einstige Heimatdorf von niemandem erkannt wird, doch da tauchen plötzlich Gestalten aus der Vergangenheit und der Gegenwart auf, die ihm helfen, die Mosaiksteine seiner eigenen Familiengeschichte sowie der Geschichte der Dorfbewohner zusammenzusetzen und das Schicksal der durch die gemeinsame Identität verbundenen Menschen zu verstehen. Die vertrauten Schauplätze und Menschen der einstigen heilen Welt, die Schulgeschichten, die Sagen und Anekdoten lassen ein Dorf lebendig werden, unter dessen Kulissen der heimkehrende Jani seine Wurzeln zu finden glaubt.
Durch die Schauplätze der Kindheit werden Erlebnisse in Jani wachgerufen und die Gespräche und die Begegnungen, rufen vor Jahrzehnten Erlebtes in Erinnerung. Das Leben der Dorfbewohner wird durch mehrere Generationen geschildert, wobei die beiden Weltkriege anhand der Memoiren der Erlebnisgeneration schwerwiegende Folgen auf das spätere Leben im Dorf hatten und kaum bewältigt werden konnten. In der Hauptfigur vermischen sich Traum und Wirklichkeit, er versucht durch die fiktiven Gespräche mit der Großmutter und dem Großvater, mit den einstigen Freunden seine eigene Identität zu finden. Während er sich bemüht, von der kollektiven Vergangenheit der Dorfgemeinschaft einen letzten Abschied zu nehmen, erweist sich dieser Abschied zugleich als eine Möglichkeit, sich selbst wiederzufinden.
Karl B. Szabó
*Stefan Raile: Letzter Abschied
Quartus-Verlag, Bucha bei Jena, 2011, S. 232
NZ 7/2012
Stefan Raile bei einer Lesung im Budapester Haus der Ungarndeutschen
Foto: VUdAK-Archiv